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Die Winckelmann-Formel

In diesem Jahr begeht die Gemeinde der Kunstfreunde den 300. Geburtstag eines der einflußreichsten Kunstgelehrten der neueren Geschichte. Johann Joachim Winckelmann, 1717 im märkischen Stendal geboren, gehört zu den Geistern, die mit ihrem Werk ein neues Zeitalter, einen neuen Geschmack, eine neue Sehweise hervorbringen, und nach deren Tod die Welt nicht mehr so aussieht, wie sie sie vorgefunden haben—und das ganz buchstäblich: sie haben ihren Zeitgenossen neue Augen gegeben. Winckelmanns Einfluß kann nicht überschätzt werden, er wirkt bis heute; ohne ihn, der das Lob der antiken griechischen Kunst sang und den weißen Marmor der Statuen feierte, indem er nicht zur Kenntnis nahm, daß sie einst reich farbig gefaßt waren, hätte es nicht nur keinen Klassizismus, sondern auch kein Bauhaus gegeben—gewisse Prinzipien seines Geschmacks, der gegen den Barock und den Manierismus, ebenso aber auch gegen das Mittelalter gerichtet war, haben heute noch Verbindlichkeit, gerade auch bei Leuten, die von Winckelmann nie gehört haben. Große Einflüsse teilen sich osmotisch mit. Obwohl die Wahrscheinlichkeit gering ist, die Redakteure der Konzilskonstitution “Sacrosanctum concilium” seien Winckelmann-Leser gewesen, so waren sie doch gebildet und hatten von vielem gehört, was außerhalb von Theologie und Liturgiewissenschaft lag.

Wenn wir den Beginn des Abschnitts 34 dieser Konstitution lesen: “Die Riten mögen den Glanz edler Einfachheit in sich tragen”, dann ist es unmöglich, nicht an einen der Schlüsselsätze von Winckelmanns Werk „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst” von 1755 zu denken: “Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterwerke ist eine edle Einfalt und eine stille Größe . . . ” Obwohl Winckelmann Katholik geworden war und einem römischen Kardinal beim Aufbau der Sammlung half, wäre er doch wohl verblüfft gewesen, daß seine Prinzipien schließlich Eingang in ein offizielles Dokument über die Liturgie der Kirche finden würde. Man darf freilich fragen, ob dieser Einfluß glücklich war, denn wenn im Ästhetischen jeder Irrtum über die historischen Fakten dennoch ein höheres Recht behaupten kann, sowie er künstlerische Früchte trägt—und Früchte trugen die Winckelmannschen Irrtümer reichlich—mag für die Liturgie, so eng verwandt sie auch ist mit der Kunst, doch etwas anderes gelten. 

Angewandt auf die überlieferte Liturgie war das Konzept der “edlen Einfalt” nicht völlig unbedenklich. Wenn man das hochkomplexe Gebilde ansah, zu dem die Liturgie schon früh angewachsen war, wie mußte und durfte dann vorgegangen werden, um zu solcher „edlen Einfachheit“ zu gelangen? Um noch einmal bei Winckelmann zu bleiben: Seiner Vorstellung nach wurde die edle Einfachheit ja keineswegs erreicht, indem man einfach dem Barock die Schnörkel und Voluten abschlug, indem man den Statuen die barock flatternden Gewänder auszog, indem man Kurvaturen begradigte und Ornamente beseitigte, es ging ihm nicht um Korrekturen und Reduktionen—es ging ihm um einen völlig anderen Geist, aus dem heraus die menschliche Gestalt und die menschliche Behausung neu aufgefaßt werden sollten. Um eine völlig andere Liturgie aber konnte und durfte es den Konzilsvätern jedoch gerade nicht gehen. Die Liturgie war keine zur Disposition stehende Materie, die beliebig umgeformt oder gar neu geschaffen werden durfte. Ihre Legitimität bestand aus ihrer Tradition. Wenn sie nach den neuen ästhetischen und theologischen Prinzipien reformiert werden sollte und blieb dabei nicht, was sie war, dann war die Reform gescheitert, wobei daran zu erinnern ist, daß in der Religion der Inkarnation Theologie und Ästhetik unauflöslich aneinander gebunden sind, ein Gesetz, das heute gern vergessen wird.

„Unnötige Wiederholungen“

Nachdem man sich von der Winckelmann-Formel von der „edlen Einfalt“ hatte beeindrucken lassen, war es gar nicht so leicht, Beispiele zu finden, die belegten, daß die Liturgie solcher Einfachheit bisher nicht entsprach, ohne an den sakrosankten Bestand derselben zu rühren. Man geriet in die Verlegenheit, die zu erzielende Einfachheit doch vor allem nur durch ein Reduzieren und Wegstreichen erreichen zu müssen; Absatz 34 fuhr denn auch fort, daß die Riten „frei von unnötigen Wiederholungen“ sein sollten. Hinter dieser schlichten Anweisung verbarg sich eine Schwierigkeit, die bei genauerer Betrachtung unlösbar war. Was ist „unnötig“?

Schon im Alltag wirft diese Frage leicht Probleme auf. Ein Tisch braucht üblicherweise vier Beine, aber macht die Tatsache, daß es auch dreibeinige Tische gibt, das vierte Bein des vierbeinigen Tisches zu etwas Unnötigem? Simone Weil kommt immer wieder auf eine Talleyrand zugeschriebene Antwort an einen Bettler zurück, der seine Bitte damit begründete, er müsse doch leben— „Ich sehe keine Notwendigkeit“, habe der Minister daraufhin gesagt. Nötig ist gar nichts, könnte man behaupten, aber ebenso gut: nötig ist alles, was existiert, denn sonst existierte es gar nicht. Diogenes, der sich von allem Unnötigen befreien wollte und nur noch eine Trinkschale behalten hatte, warf schließlich auch diese weg, nachdem er einen Hirten aus der hohlen Hand hatte trinken sehen. 

Es ist schon so: Die menschliche Kultur besteht aus der Herstellung von Unnötigem—und zugleich könnte man behaupten, dies Unnötige sei dem Menschen zum Ausdruck seiner Würde das Allernötigste. Auf dem Gebiet der Kunst und der Literatur—und das formulierte Gebet bildet eine Sparte der Literatur—entzieht sich die Frage nach Notwendigkeit und Unnötigem gänzlich jedem Versuch einer grundsätzlichen Beantwortung. Es ist dabei keineswegs so, daß die Poesie die Kategorie des Unnötigen nicht kennte – um es noch etwas schwieriger zu machen—, aber die Entscheidung darüber, was in einem Gedicht nötig und was unnötig sei—nachdem Gedichte ohnehin in toto zum Unnötigen gehören—kann erbitterten Streit auslösen, der in jedem Jahrhundert anders oder eben niemals entschieden wird.

„Edle Einfalt“ in der Liturgie?

Kyrie eleison” wird in der überlieferten lateinischen Liturgie drei Mal gesungen, gefolgt von ebenso dreimaligem „Christe eleison“, worauf sich wiederum ein dreimaliges „Kyrie eleison“ anschließt. Die Reform hat jeweils eine Anrufung aus jedem Block gestrichen—ohne Zweifel, um der Anweisung der Konzilsväter zu folgen, „unnötige Wiederholungen“ zu meiden. Aber ist man da weit genug gegangen? Wieso ist eine zweifache Wiederholung weniger unnötig als eine dreifache? Könnte man hier nicht ohne Weiteres noch radikaler vorgehen? „Kyrios“ und „Christus“ ließen sich doch sinnvollerweise zusammenfassen, weil mit beiden Wörtern ja dieselbe Person gemeint ist—genügte da nicht ein einmaliges „Kyrie Christus eleison“?

Im „Gloria“, diesem aus dem Gesang der Engel und der gemeinsamen Improvisation der Heiligen Augustinus und Ambrosius zusammengesetzten Gebet, könnte auch ein wenig Ordnung geschaffen werden—die beiden Heiligen waren bei ihrer von Enthusiasmus getragenen Erfindung offenbar nicht sehr konzentriert. Zweimal wird Jesus als „filius“ apostrophiert—genügt nicht ein einziges Mal? Zweimal kommt „qui tollis peccata mundi“ vor, zweimal „miserere nobis“, von den inhaltlichen Redundanzen ganz zu schweigen. Müßte hier eine Redaktion nach dem Maßstab des Unnötigen nicht ordentlich straffen, ohne daß inhaltlich etwas verlorenginge? Traut man dem Gruß des Priesters „Dominus vobiscum“ so wenig Nachhaltigkeit zu, daß er während der ganzen Messe für die vergeßliche Gemeinde unablässig wiederholt werden muß? Von den „unnötigen“, den Aussagen nichts Substantielles hinzufügenden Wiederholungen im „Agnus Dei“ und im „Sanctus“ ganz zu schweigen.

Absichtliche Wiederholungen

Ein prüfender Blick auf das römische Meßbuch hätte angesichts der vielen Wiederholungen darin natürlich den Verdacht aufkommen lassen können, es handle sich hierbei vielleicht doch nicht um Überwucherungen und Entstellungen, sondern um höchst absichtsvoll gesetzte Elemente, gar um ein Stilprinzip. Auf diesen Gedanken könnte man auch schon bei Betrachtung der Gebetspraxis ältester Zeiten, auch außerhalb des Christentums kommen. Der himmlische Vater weiß ohnehin, wessen wir bedürfen, so hat Jesus uns belehrt—informations—und gedankengesättigt muß das öffentliche Gebet also nicht sein. Und ist es auch in außerchristlichen Kulturen, die dem Christentum vorangegangen sind und es kultisch inspiriert haben, nicht gewesen. So sind die Meditationsgebete der Inder mit ihrer endlosen Wiederholung einer einzigen Silbe ohne Zweifel Vorläufer des bedeutendsten aller Gebete gewesen. Die griechische Orthodoxie hat es entwickelt, das „Herzensgebet“, das in der unablässigen Wiederholung der Worte „Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner“, besteht, so lange, bis sich dieses Gebet verselbständigt, sich mit dem Atem und dem Herzschlag vermählt und als nicht abreißender Strom das bewußte Sprechen und Handeln des Betenden begleitet.

Der Rosenkranz besitzt die den ganzen Menschen umgestaltende Kraft dieses Herzensgebets vielleicht nicht in gleichem Umfang, geht aber in dieselbe Richtung. Und die großen Litaneien der Kirche, die in Gestalt der Allerheiligenlitanei auch Bestandteil besonderer Liturgien, so der Osternacht und der Priesterweihe, geworden sind, feiern die Wiederholung. Sie bestehen wie die Volkslieder aus einem Wechsel von Anrufung und immer wiederkehrendem Refrain, von dem man als Mitbeter wünscht, er möge nicht aufhören. 

Die Aufforderung des Apostels Paulus: „Betet ohne Unterlaß“, hat hier die einzig mögliche Form gefunden—woraus anders als aus Wiederholungen könnte ein Gebet ohne Unterlaß bestehen? Hier wird überdeutlich: Anders, als es die Autoren der Liturgiekonstitution von ihrer intellektuellen Position her meinten, stellen „edle Einfalt“ oder „Einfachheit“ und die Wiederholungen keinen Gegensatz dar. Im Gegenteil: die Einfalt fordert geradezu die Wiederholung—in der Poesie und im Gebet gleichermaßen. Heute noch verblüfft, daß den hochgebildeten Konzilsvätern dieses ästhetische, aber auch geistliche Gesetz nicht präsent gewesen sein soll. Im Eifer des Streichens unnötiger Wiederholungen hat man sogar evidente Sinnlosigkeiten erzeugt: das Sündenbekenntnis des Priesters am Anfang der Messe und seine Bitte, daß die Gemeinde für ihn bitten möge, setzt voraus, daß die Gemeinde während dieses Bekenntnisses schweigt und die Bitte anhört, um sie danach durch das gemeinsame Sprechen des Gebetes “misereatur tui” zu erfüllen. Ebenso muß der Priester das Sündenbekenntnis der Gemeinde anhören, um mit seinem Vergebungsgebet darauf antworten zu können. Wenn Priester und Gemeinde zusammensprechen, können sie nicht gleichzeitig Adressaten der jeweiligen Vergebungsbitten sein—die Reform hätte konsequenterweise das “et vos fratres” streichen müssen. Aber das hätte wohl dem Gebet den erwünschten demokratischen Akzent genommen.

Wiederholungen im öffentlichen Gebet der Kirche

Es lohnt sich deshalb, nach der eigentlichen Motivation für die bewußt eingesetzte Wiederholung im öffentlichen Gebet der Kirche zu fragen. Einfallslosigkeit oder Bequemlichkeit können es wohl nicht gewesen sein, was den Autor der Geheimen Offenbarung veranlaßt hat, das Gebet der vier geflügelten Wesen vor dem Gottesthron mit „Sanctus, Sanctus, Sanctus“ wiederzugeben. Das rhetorische Mittel der Wiederholung ist zur Vergegenwärtigung eines außerhalb der historischen Sphäre ertönenden Gesangs vermutlich doch absichtsvoll gewählt worden. Die Musik eröffnet das Verständnis für diese Wiederholung ohne viele Worte in wenigen Minuten. Ich denke an die Marienvesper des Claudio Monteverdi und das in ihr enthaltene Madrigal für zwei Tenöre: „Duo Seraphim clamabant alter ad alterum: Sanctus, Sanctus, Sanctus“—geschrieben ist dieses Stück für San Marco in Venedig mit den einander gegenüberliegenden Chorkanzeln, von denen sich die Chöre antworten wie Berghirten, die sich von einem Berghang zum andern über ein tiefes Tal hinweg zurufen. Das Sanctus scheint sich bei Monteverdi in lauter Echos aufzulösen. Es ist wie ein einziges Sanctus, das sich in einem Spiegelkabinett vervielfältigt, um ein optisches Bild zu wählen, unzählige Male zersplitternd, aber auf einen einzigen Ursprung zurückzuführen. Die Verdreifachung des Sanctus-Rufs versucht nichts anderes, als mit zeitlichen Mitteln Ewigkeit auszudrücken.

Ewigkeit ist unvorstellbar; wir geraten trotz dieser Einsicht immer wieder in die Versuchung, sie uns als unendlich lange Zeit zu denken, was sie nicht ist—sie ist nicht ausgedehnt, weil sie dann eben doch meßbar wäre, und sie entzieht sich grundsätzlich der Messung. Sie ist ein Jetzt ohne Bewegung, ein Jetzt ohne Vergangenheit und Zukunft. Visionäre scheinen davon einen Begriff bekommen zu haben, wenn sie von einem „richtungslosen Fallen“ oder einem sie gänzlich umschließenden Feuer ohne räumliche Begrenzung sprechen.

Sprache, die notgedrungen voranschreiten muß, ahmt mit der Wiederholung die Stagnation nach, die Nicht-Entwicklung, die eine Eigenschaft der Ewigkeit ist—diesen Zustand, in dem ein einziges Sanctus niemals verhallt, als beständig anschwellender Glockenton niemals an sein Ende gelangen kann. Das Wort aus Wagners „Parsifal“ aufgreifend, „Zum Raum wird hier die Zeit“, könnte man von der Ewigkeit paradoxal als einem grenzenlosen Raum sprechen, in dem alles Geschehene am selben Ort gleichzeitig anwesend ist. So ist das „Kyrie“ in seiner dreifachen Wiederholung Zeichen dafür, daß es eigentlich endlos wiederholt werden sollte, daß es das einzige Gebet ist, das zu sprechen sich lohnt, weil es die Konklusion des ganzen Glaubens enthält. —Das Kyrie in der griechischen Orthodoxie ist denn auch das eigentliche Rückgrat der Liturgie, die ganze Liturgie wird durch immer erneuerte Kyrie-Ketten in dem Zustand eines nicht verstreichen wollenden Jetzt zusammengehalten. Die römische Liturgie hat das nicht vergessen und will mit der Dreimal-Drei-Zahl dieser Endlosigkeit, die das Symbol einer ewigkeitlichen Einzigkeit ist, gleichsam ein Denkmal setzen. Und auch die dreifache Anrufung des Agnus Dei will an die Ewigkeit der „Hochzeit des Lammes“ anschließen, die im himmlischen Jerusalem in einem nie verstreichenden Jetzt gefeiert wird und zu der die in der Zeit zelebrierten Liturgien stets aufs Neue nur hinzutreten. 

So scheint die Aversion gegen die „unnötigen Wiederholungen“, wie sie in die Liturgiekonstitution hineingeschrieben wurde, in ihrer letzten Konsequenz nichts anderes zu sein als eine Abkehr von dem eschatologischen Aspekt der Liturgie—was bestimmt nicht von allen Vätern in dieser Zwangsläufigkeit bedacht worden ist, was aber inzwischen, auch wenn man sich darüber nicht ausdrücklich Rechenschaft abgelegt hat, die Wirklichkeit vieler nach dem novus Ordo zelebrierter Liturgien bestimmt.

Es darf gerechterweise nicht unterlassen werden, eine durchaus diskutable Auslegungsmöglichkeit des Verbots „unnötiger Wiederholungen“ zu erwähnen, obwohl sie zu speziell erscheint, um in einem derart grundsätzlichen Dokument gemeint sein zu können. Die tridentinische Meßreform sah vor, daß der Zelebrant alle Gebete der jeweiligen Messe betete, auch dann, wenn eine Schola das Proprium und das Ordinarium sang und Diakon und Subdiakon die Lesungen vortrugen. Diese Vorschrift sollte in der Zeit nach der Reformation, in der an vielen Orten die Liturgie außer Kontrolle geraten war, sicherstellen, daß der gesamte Meßtext auch wirklich gelesen worden war. Das hat an vielen Orten dazu geführt, dem Choral eine mindere Bedeutung zuzumessen. Man konnte, in der Gewißheit, daß der Priester das Integrum der Liturgie garantierte, ohne größere Bedenken dazu übergehen, die Propriumtexte und sogar das Ordinarium durch Lieder zu ersetzen, wie es zum Beispiel im gesamten deutschen Sprachraum geschehen ist. Diese aus pastoralen Gründen zugelassene oder gar angestrebte Parallelität hat der Liturgie und ihrem Verständnis im gläubigen Volk großen Schaden zugefügt—es mag deshalb verzeihlich sein, wenn die Freunde der Liturgie, wann immer das Wort „pastoral“ fällt, von höchster Unruhe erfüllt werden.

Manche Klöster haben die Aufforderung der Konzilsväter, in der Liturgie „unnötige Wiederholungen“ zu vermeiden, im Sinn einer Erneuerung der Rolle des gregorianischen Chorals verstehen wollen, die zugleich mit einem verstärkten Gewicht der Choralschola einherging—die Schola nicht als Festdekoration und im besten Fall als Produzentin von Konzerteinlagen, welche die Liturgie unterbrechen, sondern die Sänger als Liturgen im strengen Sinne, die in liturgischer Kleidung die ihnen im Sinn der Subsidiarität vorbehaltenen Teile der Liturgie vortragen. Und deren Gesang von Proprium und Ordinarium diese Teile der Messe so vollgültig repräsentiert, daß ihre geflüsterte Wiederholung durch den Priester entfallen kann, weil sie zur Vollständigkeit der Messe tatsächlich einmal „unnötig“ ist. Das führt in dem schönen und strengen klösterlichen Rahmen, in dem ich Liturgien, die in diesem Sinne zelebriert wurden, erleben durfte, dazu, daß der Priester die Gebete des Ordinariums und des Propriums sämtlich nicht betete, ja, daß sie in seinem priesterlichen Lektionar ausgelassen waren—es kam ihm in der großen liturgischen Rollenverteilung gleichsam nicht zu, „Sanctus“ und „Agnus Dei“ zu beten, so wie er auch die Lesungen des Subdiakons uns des Diakons nicht mitlas. Logik ist dieser streng liturgischen Auffassung nicht abzusprechen—die Wirkung, nämlich den Sängern das Vollgewicht liturgischer Akteure zurückzugeben, ist unbestreitbar—die große festliche Liturgie erscheint noch mehr als theourgisches Werk [Gotteswerk], an dem, in Nachahmung der himmlischen Ordnung, alle Stände des Priestertums beteiligt sind und die Rolle des eigentlichen Zelebranten genau eingegrenzt ist.

Ein wenig unheimlich ist mir diese radikale Konsequenz dennoch, wenn ich mir vorstelle, daß der Priester vom Sprechen des „Sanctus“ etwa nur deshalb ausgeschlossen sein soll, weil es „unnötig“ im liturgischen Sinn ist, daß er es spricht, wenn die Schola es singt. Immerhin haben sich die bewußten Mönche das Verdienst erworben, eine Weise gefunden zu haben, wie die Anweisung der Konzilskonstitution sinnvoll verstanden werden könnte.

Notwendige Wiederholungen

Wenn aus dem freudigen Anlaß des zehnjährigen Jubiläums von „Summorum pontificum“ über die Wiederholungen im liturgischen Zusammenhang gesprochen werden soll und dabei die Frage der „unnötigen Wiederholung“ erwogen wird, dann müssen auch die notwendigen Wiederholungen erwähnt werden. Zumal, wenn sie gerade durch dieses Motu proprio Papst Benedikts XVI. endlich wieder möglich geworden sind. Es geht jetzt nicht mehr um Wiederholungen innerhalb des Ritus, es geht um die Wiederholung, die vielfache, in einem Menschenleben nicht endende, stets aufs Neue zelebrierte des gesamten Ritus. Ritus ist Wiederholung, das sind beinahe deckungsgleiche Begriffe. Geistliche Lebenskunst besteht darin, ihn in diesen unablässigen Wiederholungen stets neu zu entdecken, seine Einzigartigkeit, die in dem einen historischen Opfer Christi besteht, das er vergegenwärtigt, immer neu zu erkennen, jede Messe, wie eine berühmte Regel lautet, zu feiern, als sei sie die erste, die letzte und die einzige—das ist die eine Seite, aber die andere ist ebenso bedeutungsvoll: sich von der Messe in ihren unaufhörlichen Wiederholungen tragen zu lassen, den Willen, eigenständig zu denken und zu empfinden, in ihr zur Ruhe kommen zu lassen, in der Gewohnheit das Glück des Zuhause-Seins zu erleben, den Eigenwillen zu vergessen, das Abschweifen der Gedanken nicht als geistliches Versagen zu empfinden, weil es innerhalb des Großen und Ganzen geschieht und deshalb aufgehoben ist, das Bewußtsein, etwas zu leisten und leisten zu müssen, aufzugeben. Das Wichtigste, was der Ritus in seiner Wiederholung den ihn vollziehenden Menschen offenbart, ist, daß er stärker ist als sie – daß sie gewinnen, wenn sie sich ihm hingeben, aber daß sie ihm auf der anderen Seite nichts von seiner Kraft nehmen, wenn sie zu solcher Hingabe einmal nicht imstande sind; und wer vermag schon von sich zu behaupten, sich in seinem Bewußtsein allezeit auf der Höhe des Ritus befunden zu haben? 

Allzu lange mußten sich diejenigen, die sich mit ganzem Herzen dem überlieferten Ritus verpflichtet wußten, zugleich aber die Verbindung mit der offiziellen Kirche nicht aufgeben wollten, damit abfinden, in ihrem rituellen Leben ein ständiges Wechselbad hinzunehmen. Vom traditionsverbundenen Christen—und zwar nur von ihm—wurde die Fähigkeit zur „Biritualität“ gefordert, wie dies hieß. „Die Sprache ist eine verräterische Magd“, sagt ein deutscher Dichter, und tatsächlich verrät das häßliche Wort in seiner Technizität die Fragwürdigkeit dieser Zumutung. Weil die Erlaubnis, die alte Messe zu feiern, an vielen Orten immer nur ausnahmsweise und unregelmäßig gegeben wurde, mußten die meisten Anhänger des usus antiquior damit leben, im Ritus häufig hin und her zu wechseln. Heute wissen wir durch das Motu proprio „Summorum pontificum“, daß der überlieferte Ritus niemals verboten werden konnte, weil es keine Institution in der Kirche gibt, weder Papst noch Konzil, die dazu ermächtigt gewesen wäre. Hätte in diesem Punkt Klarheit bestanden, viel Kummer, Leid und Streit, viel innerkirchlicher Zwist hätte vermieden werden können. Denn es ist zwar ohne Zweifel eine technische und intellektuelle, aber keine seelische und spirituelle Möglichkeit, auf Dauer in zwei Riten mit derselben Andacht zu beten.

Die vielen Rubriken, die den alten Ritus prägen—si müssen ja beherrscht und verstanden werden, aber sie müssen danach auch wieder vergessen werden, weil sie in Fleisch und Blut übergegangen sind. Aus einem Riesenpalast an Vorschriften muß gleichsam Musik werden, ein müheloses Hineingleiten in das Vorgegebene, wobei der Zelebrant sich vertrauter Führung überläßt. Das Ideal ist ein Zelebrieren wie im Schlaf, denn nur dann kann der Ritus endgültig nicht mehr als eigene Handlung, sondern als actio des Erlösers erlebt werden. Wie soll das in einem Hin und Her zwischen derart tief voneinander geschiedenen Riten je gelingen können? Die bloße Überlegung, „Was muß ich jetzt tun?“ zerreißt den rituellen Zusammenhang. Es gehört gewiß zu den Intentionen von Papst Benedikt bei Erlaß der beiden gesetzgeberischen Akte, deren Jubiläum wir feiern, endlich auch in breiterem Umfang wieder den Zugang zu einer heiligen Gewohnheit zu eröffnen, weil gerade er vom Wert der Wiederholung für den Ritus überzeugt ist. Er weiß es aus eigener Übung, die ihn vielleicht auch davon abgehalten hat, für sich selbst noch einmal zum alten Ritus zu wechseln, obwohl er von dessen Wert wie kein anderer überzeugt ist. Und obwohl es sicher noch dauern wird, bis endlich alle Priester und Gläubigen, die sich nach einem Leben im alten Ritus sehnen, ohne Überwindung von Hindernissen zu der kostbaren Gewohnheit gelangen, wie sie nur die Wiederholung schenkt, liegen jetzt eben die Gesetzesakte vor, die diese Wege grundsätzlich eröffnen und die jede Beschränkung dieses Zugangs sowohl illegal als auch illegitim werden lassen.

Heilige Gewohnheit

Die Anhänger des alten Ritus haben in den letzten Jahrzehnten wahrhaft genug zu klagen gehabt, aber man darf ihnen deswegen keine trübsinnige Natur nachsagen. Wenn es Anlaß zur Klage gibt, dann klagen sie, aber wenn es Anlaß zur Freude gibt, dann vermögen sie sich ganz besonders zu freuen. Und keine größere Freude kann es für sie geben, als wenn sie feststellen dürfen, daß die durch „Summorum pontificum“ eröffneten Möglichkeiten wirklich da und dort schon zu einer „heiligen Gewohnheit“ geführt haben. Und wenn sie bemerken, daß diese Gewohnheit dann genau die Früchte trägt, von denen sie behauptet haben, daß sie nur in Wiederholung und Gewohnheit gedeihen können. Viele Orte sind es noch nicht in Europa und Amerika, aber inzwischen schon viel mehr, als realistischerweise zu hoffen war. Umso wichtiger, daß gerade in Rom durch die von „Summorum pontificum“ gewährte Möglichkeit der Errichtung einer Personalpfarrei, von der sonst in der Welt noch nicht viel Gebrauch gemacht worden ist, eine internationale Gemeinde entstanden ist, die so beispielhaft, wie es Rom angemessen ist, zeigt, wie sich der überlieferte Ritus entfalten kann, wenn seiner täglichen Übung keine Steine in den Weg gelegt werden. In einer jahrzehntelang geschlossenen Kirche, die als Gründung des heiligen Philipp Neri zugleich ein höchst ominöser Ort ist, in SS. Trinita die Pellegrini, ist nun täglich zu erleben, wie der katholische Kult sich in die Welt des Sichtbaren hinein entfalten und eine Vorstellung von katholischer Kultur entstehen lassen kann. Das Wort Kultur stammt nicht umsonst aus der Sphäre der Landwirtschaft—Kultur ist etwas, das stets aufs Neue in unablässiger Wiederholung geleistet werden muß, wie das Pflügen und Eggen, das Säen und Ernten. Das ist etwas, was der moderne Intellektuelle nicht verstehen will: daß ein geistiger Akt sich nicht in einmaligem Verstandensein erschöpft, sondern in seiner inkarnierten und das heißt: in seiner eigentlich bedeutsamen Form auf immer neue Wiederholung drängt. Der päpstliche Gesetzgeber war sich dieser Wahrheit bewußt—nun müssen die Katholiken auf der ganzen Welt aufgreifen, was er mit seinem Gesetzgebungsakt gewollt hat.

Martin Mosebach, ein Deutscher Schriftsteller, empfängt den Kleist-Preis und den Georg Büchner-Preis. Dieser Aufsatz wurde aus dem Deutschen von Graham Harrison übersetzt. 


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